Für eine Theorie der empirischen Wissenschaften
Die wissenschaftstheoretische Diskussion hat sich lange Zeit auf das Problem der Rechtfertigung wissenschaftlicher Theorien konzentriert. Wissenschaftliche Theoriebildung sowie deren Bestätigung, Weiterentwicklung oder Widerlegung stand im 20. Jahrhundert deutlich im Zentrum des Interesses der Philosophen, die sich mit den Problemen der Wissenschaften beschäftigt haben. Über lange Zeit schien es so, als ob Wissenschaft im Wesentlichen eben aus diesen Tätigkeiten der Theoriebildung sowie deren Prüfung bestehen würde.
Ian Hacking hat diese Sicht zu Beginn der 1980er Jahre einer tiefgreifenden Kritik unterzogen. Der darstellenden Tätigkeit des Theoretikers hat er das gleichberechtigte Eingreifen des Experimentators zur Seite gestellt und gezeigt, dass dessen Tätigkeit zum einen nicht, wie Karl Popper meinte, dem Theoretiker nachgeordnet ist und dass zum anderen der Experimentator über weite Strecken ohne eine Theorie dessen, was er im Experiment veranlasst und beobachtet, auskommt.
Hackings Bild der Wissenschaft von einem Wechselspiel aus Darstellen und Eingreifen lässt jedoch eine ganze Reihe wissenschaftlicher Bemühungen außer Acht, nämlich das Feld der Wissenschaften, in dem der Forscher sein empirisches Material nicht aus Experimenten, sondern aus empirischen Feldstudien bezieht.
Im Experiment schafft sich der Wissenschaftler möglichst ideale und kontrollierbare Bedingungen im Labor. Bestimmte, als bekannt und verstanden angenommene Prinzipien und Gegenstände werden eingesetzt, um unter so kontrollierten Bedingungen Effekte hervorzurufen und zu protokollieren. Die Reproduzierbarkeit des gesamten Experimentes von den Laborbedingungen über die eingreifenden Handlungen und die produzierten Effekte bis zu ihrer exakten Messung und Aufzeichnung ist der zentrale Aspekt bezüglich der Rechtfertigung eines wissenschaftlichen Experimentes.
Diese Bedingungen sind in der empirischen Feldstudien nicht gegeben. Die Bedingungen sind hier niemals kontrollierbar und reproduzierbar. Effekte werden nicht aktiv hervorgerufen, vielmehr gilt es häufig gerade, Effekte, die durch die Studien-Situation bedingt sind, auszuschließen. Schließlich werden für die Ergebnis-Erfassung häufig Kennzahlen und Messgrößen definiert, die nur in der speziellen Situation der gerade durchgeführten Studie erfasst werden können.
Nichts desto Trotz stellen solche Studien einen wesentlichen Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens dar und wenn man sich die Disziplinen betrachtet, die auf solche Untersuchungsmethoden angewiesen sind, wird schnell klar, dass sie das Leben der Menschen in der modernen Gesellschaft viel unmittelbarer betreffen als manche theoretische und experimentelle Arbeit. Klimatologie, Ökologie, Soziologie und Ökonomie sind typische Wissenschaften, die auf empirische Feldstudien angewiesen sind, und denen Hackings „Eingreifen" weitgehend verwehrt ist.
Eine Wissenschaftstheorie dieser empirischen Wissenschaften muss alle Fragen, die Hacking für die experimentelle Forschung diskutiert hat, neu aufgreifen. Wie werden die Entitäten dieser Wissenschaften gefunden, wie sind sie mit der Realität und wie mit der Theorie verknüpft? Wie kann gerechtfertigt werden, dass spezielle Feldstudien Allgemeines aussagen? Wie werden aus Feldstudien Theorien und wo werden Theorien verwendet, um Feldstudien zu konzipieren?
Solche Fragen harren der Beantwortung, und ihre Bearbeitung ist wichtig, da sie die Rolle, die Wissenschaften dieses Typs in unserer Gesellschaft spielen, bestimmen. Die gesellschaftliche Relevanz der empirischen Wissenschaften ist sicher unstrittig, ihre Ergebnisse gehen oft unmittelbar in den politischen Entscheidungsprozess ein. Umso wichtiger ist es, kritisch zu untersuchen, wie stabil das Fundament ist, auf dem diese Forschungen stehen.
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